Leseprobe:

Verwandlung

Januar 2019

"Ich stehe vor dem Spiegel in meinem Badezimmer und betrachte mich. An beiden Oberarmen sehe ich große und kleinere rote bis dunkelblaue Hämatome. Ich bin nicht überrascht. Dass das, was heute Nachmittag geschehen ist, Folgen haben würde, wusste ich. Ein kurzes Erschrecken registriere ich dennoch, auch das Schmerzen meiner Arme nehme ich wahr. Fragen tauchen auf: Kann das gut gehen? Kann es gut sein?

Ich spüre eine große Erschöpfung und gleichzeitig steht mein Körper immer noch unter Spannung, die ich als unterschwelliges Zittern wahrnehme. Wenn ich innehalte, erinnere ich das Trommeln deiner Fäuste auf meinen Armen, dort, wo sich jetzt die blauen Flecken zeigen. Es waren geradezu Trommelwirbel, die auf mich niedergingen. Das Nachbeben ist entsprechend.

Ich höre dein wildes lautes Geschrei, sehe dein wutentbranntes Gesicht vor mir. Es ist verzerrt, weil die Augen ganz weit aufgerissen sind. Aus ihnen blickt der blanke Jähzorn, die nackte Wut, ja auch Empörung und es lodert Lust in ihnen. Pure Emotion, unbändig, wild und völlig frei.

Mein Geist ist klar und ruhig. Gleichzeitig bin ich wie entrückt, ja in Trance. Das, was wir vorhin gemeinsam erlebt und gelebt haben, war jenseits aller Norm, jenseits dessen, was man gemeinhin für "gut und schön" hält - es fällt völlig aus dem Rahmen. Das wiederum entspricht meiner augenblicklichen Verfassung.

Geliebtes Wesen, dass die Male an meinem Körper von dir stammen, von deinen Händen, ist völlig unwirklich und doch vollkommen real. Dass "etwas" in mir, dir erlaubt hat, "es" zu tun, erscheint ebenfalls ganz und gar unbegreiflich.

Ich staune - bin ohne Worte - umgeben von einer großen Stille - die mich und uns in diesem Tun und Geschehenlassen aufnimmt.

 

Es ist anders, ganz anders, als die seelischen Zustände und Verfasstheiten, wie ich sie bei Gewaltexzessen kennengelernt habe. Als Kind schon durfte ich erleben, welche Macht Gefühle wie Wut und Hass ausüben können. Wie sich die nächsten Menschen schlagartig unter ihrem Einfluss vorübergehend in wilde Bestien verwandeln können.

Ich durfte erfahren, ihnen ohnmächtig, hilflos und schutzlos ausgeliefert zu sein und lernte seelische und körperliche Demütigungen zu erdulden.

Dabei konnte es geschehen, ohne, dass es mir damals bewusst gewesen wäre, dass ich solche Situationen verließ, obwohl mein Körper anwesend blieb. Auch für diese Erfahrung bin ich heute dankbar.

Ich durfte weiter lernen, wie aus vermeintlichen Opfern Täter wurden und dass auch Täter zu Opfern werden können. Auch ich habe gelernt, beide Rollen zu spielen.

Ich durfte die gnädige Erschöpfung kennenlernen, die sich nach derartigen Exzessen einstellt, wie sie lähmend, gleich einem weichen Mantel aus warmen Wachs, über mich schwappte und mich schützend in Regungslosigkeit und Apathie bettete. Ja, ich bin in die Schule der Gewalt gegangen.

Und natürlich sind auch wir beide miteinander um diese Gefahrenzone nicht herumgekommen, als wir noch ein normales Paar waren.

Dir war Gewalt stets und zutiefst zuwider. Du liebtest die Sanftheit und Freundlichkeit, die deine Großmutter für dich personifizierte, bevorzugtest das Liebe, hast dich gerne in harmlose Hüllen gehüllt, selbst um den Preis, deine Größe, Stärke und Macht verbergen zu müssen. Du lebtest lieber under cover und stelltest dein Licht gerne unter den Scheffel.

Ich habe mehr und mehr gespürt, dass du dich davor schützen wolltest, in den Macht- und Einflussbereich deiner eigenen Wildheit und Ungezähmtheit zu gelangen. Sie wurden früh von deiner Mutter rigoros und mit brachialen Mitteln unterdrückt. Für mich hatten deine Verkleidungen einen unnachahmlichen Charme und Reiz, sah ich dich in diesen Hüllen in deiner ganzen Schönheit, Anmut und Größe. Du wunderbare große und mächtige Frau. Allein dieser Blick blieb wenigen Augen vorbehalten.

Viele deiner Lebens- und Schicksalslinien führten allerdings dazu, dass du dieses Überlebensmuster bis zur Perfektion kultiviert hast, bis es irgendwann auch zu einem Gefängnis für dich wurde.

Ganz sicher spielte deine jüdische Familiengeschichte dabei eine entscheidende Rolle.

Sie war bestimmt von der ständigen Präsenz der Gefahr, erkannt, denunziert und ausgeliefert zu werden. Es blieb für dich immer unfassbar, dass deine eigene Mutter, als junge Frau von höchstens 20 Jahren, ihre Großmutter der Gestapo übergeben musste. Sie wurde daraufhin 90ig jährig nach Theresienstadt deportiert und starb dort. Du hast später den Namen dieser Urgroßmutter bewusst angenommen: Stern. Nun tragen wir ihn beide.

Deine Großmutter, die Liebe deiner Kindheit, überlebte nur versteckt. Das bedeutete für den Rest der Familie um keinen Preis aufzufallen. Im Unscheinbaren und Harmlosen wurde ein äußerlich normales Leben zelebriert, das weder Aufmerksamkeit noch Neid erregen durfte und unter dem Deckmantel der absoluten Verschwiegenheit stand. Hing doch das Leben eines jeden Beteiligten vom Aufrechterhalten dieser Scheinwelt ab.

Diese Erfahrungen bestimmten die Atmosphäre und das Verhalten der Erwachsenen in deiner Familie auch noch lange nach 1945 und hemmte, ja erstickte geradezu deine stürmische und lebenshungrige Kinderseele. Dass dich diese Prägung eher in die Nähe der Opfer brachte, liegt nahe. Genauso wie es sehr verständlich ist, dass du deinen eigenen aggressiven, wilden und ungezähmten Anteilen mit Argwohn begegnet bist und sie lieber gegen dich selbst gerichtet hast, als in die Nähe von Tätern zu rücken.

In mir hattest du ein Gegenüber, das eher am anderen Pol agierte, was dich einerseits faszinierte, andererseits aber auch abgestoßen hat. Meine Eruptionen konnten zeitweise durchaus Teller zerbrechen, Macken auf Tischplatten hinterlassen oder Stuhlbeine zerbersten. Davon wurde dir übel oder du bekamst Kopfschmerzen und musstest ins Bett. Genau dahin verbannte dich früher deine Mutter stundenlang zur Strafe für deine kindlichen Wutanfälle. Für dich lebendiges und wildes Wesen eine grausame Tortur, schlimmer als die Tracht Prügel zuvor. Jetzt übernahm dein Körper diese Funktion und bestrafte dich für meine Ausbrüche.

 

Wir waren beide nicht austariert und im Reinen auf diesem schwierigen Terrain.

Unsere Präferenzen lagen sozusagen entgegengesetzt. Du wähltest eher den Rückzug, allerdings ohne zu unterliegen. Ich agierte oft aggressiv und beschämte mich damit selbst.

Damit schienen die Rollen verteilt zwischen uns und waren es dennoch nicht.

Jenseits dieser Machtspiele von Opfern und Tätern haben wir uns stets wieder gefunden in der Tiefe unserer Wesen. Niemals hat eine Auseinandersetzung diese Ebene erreichen, beeinflussen oder gar beschädigen können. Das hat unsere Verbundenheit so kostbar gemacht.

Dann kam deine Krankheit ins Spiel und alles änderte sich.

Du warst es, die uns bisher durch die Sterne führte und du warst eine wunderbare und zauberhafte Sterndeuterin. Forsch, mutig, voller Einfälle, hinreißend und charmant stürmtest du in deiner Begeisterung voran und nahmst mich mit. Ich war in all den Jahren deine treue und ergebene Gefährtin, ohne jemals in irgendeiner Weise aufzubegehren. Ich folgte dir von Herzen gern.

Wir haben beide niemals gerechnet, gezählt oder gewogen. Es war der tiefe Wunsch einer großen Liebe zwischen uns, sich aneinander zu erfüllen und sich hinzugeben, auch angesichts der Unausgewogenheiten und Gefährdungen unserer Persönlichkeiten.

Mit deiner Krankheit brachen stürmische Zeiten an und beendeten unsere Abenteuerfahrten mit der Sternschnuppe, im wahrsten Sinne des Wortes. Damit begann "meine Zeit" - die Zeit "deines schwäbischen Mädchens". Es wurde sich mehr und mehr der Größe und Kraft seiner Seele bewusst. Und begann uns durch die Stürme zu führen, die jetzt losbrachen!

Du hast sie damals schon auf jenem Jugendbild erkannt, hast sie gewählt und an sie geglaubt.

Ja, geliebtes Wesen, ich habe das Ruder übernommen, habe uns auf Kurs gehalten und erkenne, dass auch du mir vertraust, gleichwie ich dir bedenkenlos zu den Sternen gefolgt bin.

Allein, wohin geht diese Fahrt?

Manchmal, wenn ich mich der Verzweiflung überlasse, glaube ich im Tod unser Ziel zu erkennen - in deinem Tod, in meinem Tod, in unserem gemeinsamen Tod.

Inzwischen habe ich verstanden, dass solche Tröstungen meinem Selbstmitleid geschuldet sind und meiner Weigerung tiefer zu schauen, hindurchzuschauen.

Nein, der Tod ist weder Ziel noch Lösung. Er beendet vielleicht, was ich jetzt gerade nicht mehr aushalten und ertragen will. Aber das Ende ist er nicht.

 

"Sterben heißt nur, aufhören, dasselbe zu sein. Geboren werden heißt, beginnen etwas anderes zu sein, als zuvor" lese ich bei Pythagoras, und: "nichts, gar nichts behält seine Erscheinung, nichts ist beständig, alles ist im Fluss."

 

Oh Gott, was klingt das lapidar und abgedroschen. Wie oft schon habe ich es gehört und sogar geglaubt. Jetzt erleide ich es leibhaftig, sterbe Tag für Tag in deinem Sterben, wandle mich in deinem Wandel, gebäre mich wieder und uns, um wieder zu vergehen in deinem steten Vergehen, das auch mein Vergehen ist.

Seit die Krankheit den Takt unseres Lebens bestimmt, es mögen sieben oder acht Jahre sein, vielleicht auch mehr oder weniger, keiner kann es genau sagen - seither haben wir alles verloren, was wir waren. Nichts ist wie zuvor. Nichts.

Wir sind uns keine Liebhaberinnen mehr - unser Bett steht im Keller. Wir sind uns keine Gefährtinnen mehr, die ihren Alltag und ihr Leben gemeinsam gestalten. Du lebst im Altenheim.

In dem Maße, wie sich die Krankheit deiner bemächtigt hat, bist du mehr und mehr hinter einer unsichtbaren Wand verschwunden. Streiftest alle Rollen, Bezüge, Beziehungen, Aufgaben, Vorlieben und Gewohnheiten, sogar deine innere und äußere Gestalt, alles, was dich auszeichnete, wie alte Kleider scheinbar mühelos und klaglos ab. Du selbst schienst dein eigenes Verschwinden nicht wahrnehmen zu können. So gab es zwischen uns auch niemals Worte für unser Verschwinden.

Ich blieb allein zurück, an der Seite einer Gestalt, die wie ein brüchig werdendes Gehäuse, ja wie ein sich allmählich entleerender Kokon, neben mir steht. Schroff, abweisend, oft fremd und der sein eigenes Leben zu haben scheint. Deine Verwandlung ist in vollem Gange, ist sichtbar, vollzieht sich vor meinen Augen und ich erlebe sie als tiefen, manchmal abgrundtiefen, Seelenschmerz. Das, was dich im Innersten zusammenhielt, ist nicht mehr da. Die einzigartigen Brechungen des Lichts in deiner Gestalt vergehen, lösen sich auf, verändern sich bis zur Unkenntlichkeit. Das, was von dir noch da ist, ich nenne es deinen "Körperkokon" oder deine "Kokongestalt", treffendere Worte finde ich nicht dafür, wie ich dich neben mir wahrnehme - sie also, deine "Kokongestalt", beherbergt noch Fragmente deiner Persönlichkeit, deiner Art zu denken, deiner Denkmuster und Denkstrukturen, deiner Handlungen und deiner Bewegungen, deiner Art zu sein, ja, Marie zu sein.

Ich weiß, dass meine Marie, wie ich sie geliebt habe, nicht mehr da ist. Ja, das weiss ich. Und auch mein Herz lernt diese Wahrheit buchstabieren.

 

Du hast neulich ein Puzzle gemacht. Am Ende lag es in drei großen jeweils zusammenhängenden Teilen vor dir auf dem Tisch. So weit warst du gekommen. Aber den letzten Schritt des Zusammenfügens der Teile zu einem Ganzen konntest du nicht mehr vollziehen. Die Teile blieben unverbunden auf dem Tisch liegen.

Wenn ich ein solches Geschehen mit dir teile, bricht mir fast das Herz. Ich leide tiefsten seelischen Schmerz, während du gelassen die Puzzlefragmente sorgfältig in eine deiner Schachteln zurücksortierst.

Ich denke an Kassandras Worte - das Buch von Christa Wolf, das entscheidend für dein Leben war. "Die Wörter sterben vor den Bildern". Neulich hast du mir diesem Satz vorgelesen und er traf mich schwer, weil ich spürte, dass du diesen Weg gehst. Zweifellos.

Auch gemeinsam gehen wir diesen Weg mit allen Folgen. Allen, die dich begleiten, fehlen die Worte und die Bilder, um dich zu erreichen.

Immer wieder suchen wir nach Brücken, nach Verbindungen zu dir und sei es nur, um für deinen "Körperkokon" wenigstens notdürftig Sorge zu tragen. Neulich war es vierzehn Tage nicht möglich, dir beim Waschen oder Duschen zu helfen. Du warst vollkommen unzugänglich, unerreichbar. Du glichst einem schroffen Felsklotz, der sich in dichten undurchdringlichen Nebel hüllt. Kein Durchkommen. Kein Durchdringen.

Dann versuchten wir es zu zweit, haben in beharrlicher Klarheit und mit einem liebevollen Herzen deinem Widerstand so lange standgehalten, bis er verebbte. Dabei entstanden die blauen Flecken an meinen Oberarmen. Erst danach konntest du loslassen, weich werden und eine Tür ging auf. Du drehtest dich um und stelltest die Dusche an.

Selbst solche Türöffnungen sind nicht wiederholbar. Sie kreieren sich in jeder Situation neu, weil auch du dich ständig neu kreierst, weil du im steten Wandel bist, den deine Krankheit bestimmt. Ich sehe dich mit offenen Augen vergehen, ohne irgendetwas tun zu können. Ich kann dich nicht halten. Ich weiß nicht einmal, was du erlebst, fühlst oder spürst, ob du Ähnliches wie ich erlebst, auf deiner Seite der Wand? Ich weiß nichts.

Ja, ich bin hilflos und ohnmächtig und ohne Worte. Bleibe allein mit deiner "Kokongestalt".

Manchmal erliege ich der Versuchung zu verzweifeln, aber immer öfter lerne ich in diesem Seelenschmerz meinen Freund und Begleiter zu erkennen, vertraue mich ihm an, überlasse mich ihm, gebe mich hin, werde weich und offen, lasse ihn über mich und durch mich fließen und gehe nicht unter.

Dann lösen sich irgendwann die Eisenringe um meine Brust und "der Wagen bricht". Ich kann wieder frei atmen.

Dann höre ich in den Pythagoras-Worten keine Plattitüden mehr, vielmehr sind sie ein tiefer Trost, ja Seelenbalsam:

 

"Kein Ding behält seine Erscheinung und die ewige schöpferische Natur

lässt eine Gestalt aus der anderen hervorgehen und in der ganzen Welt geht nichts zugrunde, sondern wandelt sich und erneuert sein Gesicht."

 

Diese Wandlung ist unser Leben, geliebtes Wesen. Du erduldest sie am eigenen Leib, breitest deine wunderbaren Gewänder eins nach dem andern willig aus, legst sie ab, wirst schutzlos im eigenen Gehäuse - bist aushäusig - während sich in deinem "Körperkokon" Tür um Tür schließt, für immer. So ahne ich, dass auch für dich dein Zuhause allmählich fremd, unwirtlich und rätselhaft wird. Eines Tages wirst du nicht mehr zurückkehren wollen, nicht mehr zurückkehren können. Dann wird der leere Kokon zurückbleiben.

Vorerst bist du noch unterwegs zwischen den Welten und unter dem Hin und Her deiner Grenzgänge, wandelt sich deine innere und äußere Gestalt mehr und mehr.

Ich erleide deine Wandlung unter großen Schmerzen. Beklage und betrauere den Verlust deiner Gewänder und Kleider, du meine zauberhafte Geliebte. Ja ich vermisse dich unendlich und dein Verschwinden bricht mir das Herz.

So will ich ein letztes Mal deinen Stern an den Himmel zaubern, weil er für meine Augen der Schönste war, weil ich ihn liebte.

 

Ich werfe an den Himmel

deine aufrechte und hohe Gestalt

dein zauberhaftes Lächeln

dein helles Lachen

den zarten Glockenklang deiner Stimme

 

Ich werfe an den Himmel

die unnachahmliche Neigung deines Kopfes nach hinten

deinen hinreißenden Blick voller Charme und Anmut

deine wunderbaren Mandelaugen

den herrlichen Schwung deiner vollen Lippen

deine galanten anmutigen Gesten

 

Ich werfe an den Himmel

deinen Witz und deinen Humor

deinen Hang zum Sonderbaren, Skurrilen und Komischen

deine Lust, dich zu Verkleiden

deinen Mut, deine Tapferkeit und deine Sanftheit

deine stürmische und leidenschaftliche Begeisterung

deine schier unerschöpfliche Kreativität

deine Ideenlust und deinen Wissensdurst

 

Ich werfe an den Himmel

deinen Idealismus und deine Kompromisslosigkeit

deine Bockigkeit und Sturheit

deine Schroffheit, Strenge und deine Härte

deine Fluchttendenzen und deine Versteckspiele

deine Unverdrossenheit und deine Beharrlichkeit

deine Bereitschaft zu Leiden

 

Ich werfe an den Himmel,

deine Abenteuerlust und deinen Lebenshunger,

die stets mit einer tiefen Ängstlichkeit und großen Vorsicht

zu ringen hatten

deine unbändige Sehnsucht nach Freiheit, die unvereinbar blieb

mit deinem hohen Anspruch nach Verantwortung

 

Ich werfe an den Himmel

deine Widersprüche und Ungelöstheiten

deine Brüche und Abbrüche,

wollten sich darin vielleicht nur

deine Wildheit und Ungezähmtheit zeigen,

Du große, wunderbare Seele, mein geliebtes Wesen.

 

Nein, ich musste dich nicht idealisieren. Ich konnte dich sehen und liebte diese deine wunderbare Mischung über alles. Dass ich dich mit dem Herzen sehen durfte, dass ich dich kostbares Wesen lieben durfte, macht mich dankbar, satt und still. Ich verneige mich vor dir und dem was du gelebt hast. Lebensversuche hast du es genannt in deiner Bescheidenheit, oder war es dein zu hoher Anspruch?

Wie auch immer: du warst ein herrlich leuchtender Stern am Himmel, der in unendlich vielen Farbnuancen changierte, zu dem ich liebend gerne aufblickte und auf dessen Erscheinen am Abend ich heute noch warte. Dieser "dein Stern" erlischt, mein geliebtes Herz, um sich im Erlöschen zu wandeln und in neuem Glanz wieder zu erscheinen.

Dass dein Krankheitsprozess, den du am eigenen Leibe erduldest und auch darin bist du groß, dieser Wandlungsprozess ist, für dich und auch für mich, das begreife ich allmählich. Auch dafür danke ich dir aus tiefstem Herzen und nehme dieses Geschenk an, wenngleich mit zitternden Händen.

 

Ich habe dich dieser Tage bewusst "bei deinem Namen gerufen": MARIE - und du sagtest ganz lapidar und ohne jede Regung: "Nein, da ist nichts."

Und auch wenn ich weiß, dass dir die Worte zerrinnen, haben diese Worte getroffen.

Ja, du bist unterwegs, meine geliebte Marie, mein Alles - zwischen den Welten, an der Schwelle stehend - Worte vermögen nicht zu finden, wo du bist , wer oder was du jetzt bist.

 

Aber hie und da kann ich "Es" sehen

in deiner AUGEN BLICK

Hie und da kann ich "Es" hören als KLANG in deiner Stimme und

Hie und da erahne ich das zarte Schimmern eines aufgehenden Sterns

an einem neuen Himmel

 

Geliebtes Wesen bist DU es - noch - oder bist DU es wieder -

Bleiben wir Liebhaberinnen und Gefährtinnen

in allen Wandlungen dieses Leben - aller Leben?!

Wohlan, sei mir willkommen."