Leseprobe:

Tore gehen auf

  August/November 2019

"Du lebst jetzt über ein Jahr im Altenheim.

Heute sitze ich ausnahmsweise in einem Cafe um diese Zeit. Sonst sind die Nachmittage dir und mir, unserem Zusammen-sein vorbehalten. Exklusiv. Anders geht es nicht. Es muss so sein. Warum eigentlich muss es so sein? Ich frage mich das ernsthaft und oft.

 

Natürlich finden sich in mir allerhand Motive. Da ist mein Bedürfnis nach Kontrolle, genährt aus meiner Angst dich zu verlieren. Angst, du trinkst nicht genug oder du bist völlig eingenässt, weil es ihnen nicht gelingt dich umzuziehen. Dinge, die so geschehen sind und immer wieder geschehen, weil du so vehement körperlich agierst. Mein Gehirn ist kreativ im Produzieren immer neuer Ängste und sie sind noch nicht mal an den Haaren herbeigezogen oder hysterisch. Sie könnten durchaus geschehen, das weiß Schwester Rike ganz genau. Und doch wartet hinter all diesem vermeintlichen Wissen und Versorgen nur die allerletzte Angst, diesen deinen Körper, deine körperliche Existenz zu verlieren. Deshalb will ich das, was noch von dir da ist, so lange wie möglich erhalten. Ich halte fest, was nicht zu halten ist, weigere mich, dem ewigen Wandel ins Auge zu sehen. Ich beobachte es. Es ist da. Ja.

Dann finde ich das Bedürfnis etwas bestimmen zu wollen. Wenigstens noch ein bisschen Macht und Einfluss zu haben auf dieses völlig unberechenbare Geschehen. Es zeigt sich manchmal in meiner zuweilen zwanghaft betriebenen Duschroutine. Dahinter verbirgt sich meine eigene Hilflosigkeit dem Geschehen gegenüber, das nicht zu bezwingen, zu ordnen oder zu regeln ist. Es geht seinen ganz eigenen Weg. Rilke würde vielleicht sagen: "...das Ewige und Ungemeine, will nicht von uns gebogen sein."

Auch einen Mangel an Vertrauen in die tiefe Weisheit des Lebens, das sich in uns und durch uns lebt, finde ich in meinem Tun. Und eine ganz alte Angst: die Angst schuld zu sein verbunden mit der kindlichen Illusion und Hoffnung, dass ich es mit äußerster Anstrengung doch verhindern könnte. Auch dieses Kleid ist längst abgetragen und abgelegt und doch erinnert sich etwas in mir daran, es lange getragen zu haben, flüstert mir seine Drohungen ins Ohr und ins Herz und ich muss gut hinhören, um diese alte Stimme zu erkennen, damit sie mich nicht regiert. In diesem Schuldgefühl steckt das Potential, das Unmögliche möglich zu machen, das weiß ich. In ihm lauert die Gefahr der Selbst-Opferung. Auch das weiß ich. Und gleichzeitig weiß ich, dass mich genau diese Opferungs-Erfahrungen meines Lebens dahin gebracht haben, in Wahrheit zu sehen, dass etwas in mir lebt und gelebt werden will, was genau da steht, wo keiner steht, was tut, was keiner tun will, allerdings ohne sich zu opfern oder zum Helden zu werden, sondern in Würde mein tiefstes Wesen zu leben. So weist selbst dieses vermeintlich kranke Schuldgefühl eine Linie zu meiner Seele, in die Tiefe des Bewusstseins. So verwoben und geheimnisvoll sind die Wege des Lebens. Sie zu entwirren legt Wunder um Wunder frei und bleibt letztlich doch ein Geheimnis, das nicht gebogen sein will, nicht bezwungen werden kann, schon gar nicht mit Gedanken.

Dann steht da noch der Vorwurf im Raum, "dass ich das alles mache, weil ich nichts anderes habe". Im Moment stimmt das sogar, dass ich nicht viel Anderes habe. Aber es geht nicht anders. Ich habe eine Entscheidung in der Tiefe meines Herzens getroffen.

 

Ja, sie ist genährt von diversen Ich-gesteuerten Impulsen und Motiven, das ist mir bewusst. Und doch gibt es jenseits dieser Ebene etwas, das unbeirrt dieses Erleben mit dir, in seiner ganzen Tiefe und auch in dieser Absolutheit sucht, will und braucht. Ich kann es nicht beweisen oder mit Worten erklären. Es ist die Wahrheit des Herzens oder der Weg meiner und deiner Seele!

 

In diesem Sinne stimmt es, wenn ich sage: es muss so sein. Und darin liegt kein Zwang, weder von außen noch von innen. Bei aller Ego-haften Abhängigkeit und Ich-behafteten Strebungen, ist etwas in mir, das sich dieser Situation stellen will, immer wieder und jeden Tag aufs Neue. Etwas, das dieses Handeln verantwortet und das sich dieser Aufgabe verpflichtet, ja sie aus tiefster Freiheit sucht. Ich erlebe in diesem Sein und in der Hingabe an das, was ist, so, wie es ist, Würde und tiefen Frieden. Es ist weder Last noch Opfer. Es ist eine freie Wahl.

 

Und so geschieht auf diesem Weg immer wieder Überraschendes:

Neulich hattest du ein sehr schlimmes Hautproblem im Gesicht. Es sah wirklich hässlich aus. Um den Mund, zwischen den Augenbrauen, in den Augenbrauen, überall rote Pusteln, die du auch noch aufgekratzt hast, weil sie dich juckten. Nein, es sah nicht schön aus und es fiel mir schwer das auszuhalten. Die Hautärztin griff dann gleich in die Antibiotika - Kiste. Es half nicht.

Also versuchte ich es selbst mit Hilfe von einer Aromatherapeutin und Frau Neumann vom Reformhaus und natürlich Schwester Rike. Du hast dich nach ganz kurzer Zeit darauf eingelassen, dass ich dir dein Gesicht versorge: es reinige und mit Tinkturen und Ölen die betroffenen Stellen befeuchte und deine Gesichtshaut pflege. Du trinkst sogar Heilerde zur Entgiftung und es bessert sich allmählich! Das ist sehr überraschend und berührend, weil gerade das Gesicht so intim ist und da lässt du mich gewähren, wo du sonst um dich schlägst, beißt und haust, wenn man dir nur die Jacke ausziehen möchte.

Auch so etwas geschieht. Und es ist nicht zu erklären und nicht zu verstehen.

Meist stehe ich ruhig im Feuer. Inzwischen sogar wenn du mir eine Ohrfeige gibst. Nichts ist verletzt. Nichts beklagt sich. Niemand erzählt eine Geschichte. Es kommt und geht.

 

Heute bin ich also mal nicht bei dir - ausnahmsweise - ein Mal in der Woche ist in der Regel eine Freundin bei dir. Die Einzige von allen unseren und deinen Freunden, die dich regelmäßig besucht. Die andern wollen dich lieber so in Erinnerung behalten, wie sie dich von früher kennen. Manche von ihnen fragen nach dir, die meisten wollen lieber auch nichts hören, auf Besserung ist ja ohnehin nicht zu hoffen und schlechte Nachrichten sind schwer verdaulich. Ich habe lange Zeit mit diesen Freunden und Freundinnen gehadert, war gekränkt und enttäuscht.

Natürlich weiß ich, dass es schwierig ist, dich zu besuchen. Du bist so anders, dass es jeden erst mal verstört, der mit dir zu tun bekommt.

Um dir in deinem So-Sein jetzt begegnen zu können, um davon überhaupt eine Idee zu bekommen, wie das möglich ist, dafür muss einer bereit sein, einen weiten Weg mit sich selbst und auch mit dir zu gehen!

Ich habe verstanden, dass die allermeisten Menschen mit ihrem normalen Leben völlig ausgelastet sind und keine Energie und kein Bedürfnis für solche Begegnungen, die jenseits aller Normalität liegen, haben. Erfahrungen, die das normale Leben völlig in Frage stellen, sind unangenehm und werden gewohnheitsmäßig und weitgehend unbewusst vermieden. Das Bedürfnis, lieber ein Bild von dir in Erinnerung zu behalten, kann ich gut verstehen. Alles beim Alten zu lassen heißt auch etwas festzuhalten, was bekannt ist und womit man umgehen kann. Auch das kenne ich gut.

 

Was ich inzwischen wirklich bedauere ist, dass sich unsere Freunde um die Erfahrung bringen, dem Leben, das es mit dir zu erfahren gibt und in dem ich Fülle und großen Reichtum erfahre, zu begegnen.

Mit dem Verstand ist es ja auch nicht zu begreifen, dass jemand wie du, in deinem jetzigen Zustand, überhaupt etwas zu geben hat. Dass er sogar Wesentliches zu geben hat, überfordert den Verstand vollkommen.

 

Eine sehr alte Freundin teilte mir empört mit, du seiest aufgestanden und weggegangen, als sie zu dir kam! Sie fühlte sich brüskiert und schloss aus deinem Verhalten, dass du nichts mehr mit ihr zu tun haben willst. Sie wird dich nicht mehr besuchen. Es ist nahe liegend, so zu denken. Wer ahnt, dass du im Moment vielleicht nur überfordert warst und nicht wusstest, was du tun sollst. Wahrscheinlich hast du sie gar nicht erkannt, spürtest nur etwas Unklares, das du nicht interpretieren konntest. Dass du dann die Situation erst mal verlässt, ist nachvollziehbar. Für mich, nachdem ich unzählige Enttäuschungen und vermeintliche Zurückweisungen hingenommen und durchlitten habe, untersucht habe, was der Motor meines Handelns ist, mich hinterfragt und angeschaut habe in meinem Tun und Wollen, mit meinen Erwartungen, Wünschen und Hoffnungen, meinem Machthunger, meiner riesigen Angst vor Zurückweisung und vor Verlust, vor Hässlichkeit, vor Verfall und Tod.

Durch dieses reine Anschauen und Beobachten meines kleinen bedürftigen Ich´s, ich sage das ohne Abwertung und Spott, es ist einfach so, in diesem Anschauen und Erkennen wie ich ticke, geschieht es allmählich und immer wieder, dass sich ein unsichtbarer Vorhang hebt, wie ein Schleier. So mag es Goldmarie ergangen sein, als sie in den Brunnen gesprungen ist und sich im Land von Frau Holle vorfand!

Ich sehe, was du bist, was wir sind mit andern Augen, höre, mit andern Ohren. Das Leiden an dem, was ist, hört sofort auf. Unser Leben ist schön und leicht, so war es niemals zuvor. Dann gleicht unser Zusammensein einem Tanz der Herzen, die einfach nur miteinander spielen und wenn es dabei mal rumpelt und trudelt, ist auch das ein Spiel, das im nächsten Moment wieder eine neue Wendung nimmt, ohne Anfang und Ende und ohne jede Bewertung.

Und du bist nach wie vor krank, fällst aus allen Rollen, benimmst dich "unmöglich" und machst allen, die mit dir zu tun haben "Schwierigkeiten". Du erfüllst und bedienst keinerlei Erwartungen.

 

Auch Deine Kinder lernen diese Lektion und sie ist nicht leicht. Ihre "Mama" gibt es längst nicht mehr. Sie wird unendlich vermisst. Dennoch kommen sie von weit her, immer wieder, und besuchen dich. Und du? Es kann ihnen passieren, dass du sie sitzen lässt.

Dann hilft es, Abstand zu halten, in Sichtkontakt zu bleiben und geduldig zu warten. Es kann dauern, aber meistens kommst du. Nicht etwa, um ein Gespräch zu führen oder ihnen zu sagen, dass du dich freust, dass sie gekommen sind. Du fragst längst nicht mehr, wie es ihnen geht. Jetzt sitzt du einfach nur neben ihnen, lächelst sie hin und wieder an und schenkst ihnen einen AugenBlick. Dann stehst du auf und drehst deine Runde, um später nochmal zurückzukehren, oder auch nicht.

 

Worte sind rar. Du verstehst sie kaum noch und findest sie nicht mehr. Wenn du eine Zeitung hast oder ein Buch, liest du gerne vor und benutzt die fremden Worte, um in Kontakt zu kommen. Der Inhalt ist dabei völlig unbedeutend. Es kann sich um einen Werbeslogan handeln oder eine Autonummer. Worte sind wie Laute, die ausgetauscht werden, die Schwingung erzeugen und Verbundenheit.

So kann es auch während des Malens geschehen, dass du etwas abschreibst und es dann immer wieder vorliest. Auch dabei geht es nicht um den Inhalt, als vielmehr um das In-Kontakt-sein. Es genügt zu nicken oder es zu wiederholen oder etwas Zustimmendes zu sagen. Und immer wieder einander anzuschauen, in die Augen, da liegt Verstehen und Verbundenheit jenseits aller Worte.

Dir zu begegnen, setzt die Bereitschaft voraus, alles, was wir gelernt haben, alle unsere Interpretationen, aber auch unser Angewiesensein auf Bestätigung und das sich gegenseitige Versichern, dass man sich gut ist, zu lassen. Es gilt ganz offen und ohne Erwartungen und fest gefügte Vorstellungen zu werden. Das ist wirklich Freiheit in der völligen Offenheit!

 

Öffnung ist das Entscheidende, was ich durch dich lerne. Immer und immer wieder. Öffnung, gerade auch dann, wenn es nicht weiter zu gehen scheint! Immer wieder nur JA-sagen zu dem was ist, auch wenn ich es als unerträgliche Zumutung erlebe.

 

Mir fällt eine Begebenheit aus meinem Berufsalltag ein. Schwester Rike war in einem kleinen Dorf im Schwarzwald für einen ambulanten Pfle-gedienst unterwegs. Ein Patient mit Anus Praeter, einem künstlichen Darmausgang, musste bougiert werden. Etwas, was ich niemals zuvor und niemals danach gemacht habe. Mit speziellen Instrumenten, sogenannten Hegarstiften, Metallstifte unterschiedlicher Größe, wird der Darmausgang in einer Tiefe von ca. 10 cm geweitet. Man beginnt mit den Stiften mit dem kleinsten Durchmesser und steigert die Größe mit der Zeit, führt sie in das Stoma ein und bewegt sie vorsichtig nach allen Seiten. Auf diese Weise wird die Öffnung gedehnt und weitet sich. Eine Tätigkeit, die nur sehr langsam, äußerst behutsam und mit großer Vorsicht und Auf-merksamkeit ausgeführt werden kann. Sie ist sehr zeitaufwendig. Sie musste damals täglich wiederholt werden. Für den Patienten war dieses Procedere nicht sonderlich angenehm. Trotzdem entstand dabei oft eine sehr intime und stille Atmosphäre, ohne Worte! Ich habe dieses Erleben niemals vergessen.

Deshalb fällt sie mir wohl auch ein, als ich mich frage, was eigentlich in diesen vergangenen fast eineinhalb Jahren mit mir und dir geschehen ist, in denen ich Tag für Tag bei dir war. Jeder Tag bei dir öffnet mich mehr, oft unter den allergrößten Schmerzen. Jeder Tag gleicht einer Prozedur, die mich weitet, für alles, was geschehen will und muss, unaufhaltsam. Ich habe nie eine Geburt erlebt, habe kein Kind geboren, was ich zeitweise sehr bedauert habe. Jetzt erfahre ich mit dir und durch dich Geburt und geboren werden auf ganz "eigene" Weise.

Täglich und stündlich vergeht etwas zwischen uns, stirbt etwas und gleichzeitig entsteht etwas Neues. Manchmal kann ich zuschauen, wie du dich veränderst, wie dein altes Gesicht verfällt und kann sehen, wie es sich neu gestaltet. Diesem Wandel beizuwohnen, ihn mit zu vollziehen, ihn zu begleiten, ohne das Mindeste daran ändern zu können, ist Leben in der völligen Offenheit des Herzens. Und ohne Frage, auch ich wandle mich unter diesem Geschehen unaufhaltsam. Auch meine Gestalt verfällt und formt sich neu.

Manchmal erfahre ich sogar eine völlige Befreiung von allem Tun-müssen und Tun-wollen, von dem krampfhaften, mich in Atem haltenden Be-dürfnis, etwas managen und regeln zu müssen. Dann löst sich alle Anspannung und ich werde gelöst. Dann trudeln wir gemeinsam im freien Fall. Etwas Schöneres gibt es nicht. Das sind AugenBlicke völliger Zeit- und Raumlosigkeit.

Dann ist da nur Dankbarkeit und Frieden. An anderen Tagen überwiegt die Erschöpfung, die Trauer, die Ratlosigkeit und Hilflosgkeit. Ein Kommen und Gehen von Erleben.

Nichts ist von Dauer, nichts bleibt. Routine kann sich kaum einstellen und zerbricht nach kurzer Zeit, um sich neu zu gestalten. Das ist wahre Lebendigkeit.

Du kannst nicht mehr denken. Du verstehst Worte nicht mehr. Dir zerfallen die Handlungen und du verlierst dich in Einzelheiten. Deine Aufmerksamkeit ist wie ein Vogel. Sie flattert dir davon!

Du kannst deine Gefühle nicht mehr steuern. Du wütest, schreist und schlägst, wenn du nicht verstehst, was geschieht, oder wenn man etwas von dir will, was du nicht verstehst: etwa zur Toilette gehen und deine Hose ausziehen, weil alles nass ist, oder andere Schuhe anziehen, damit wir spazieren gehen können oder auch um 12.00 Uhr mittags endlich mal aus dem völlig eingenässten Bett aufzustehen!

Ohne etwas "Bestimmtes zu wollen", ohne einen festen Plan zu verfolgen, muss man dir begegnen und warten, was von dem, was wir für wichtig, nötig oder schön halten, jetzt möglich ist - oder auch nicht. Es zu lassen und einen anderen Weg zu suchen, immer wieder und wieder. Unzählige Niederlagen hinnehmen, auf Kampf verzichten und doch manchmal zu ringen mit dir, solange, bis das Unumgängliche getan ist. Und dann wieder geschehen Dinge, wie von selbst und auch das ist unerklärbar!

Es ist wie ein großes Spiel, ein Tanz ohne Anfang und Ende, ohne Ziel. Es ist das Leben selbst!

 

Gewiss: Du fällst, "wir alle fallen und sieh dir andere an, es ist in allen..." lese ich bei Rilke.

Du fällst im freien Fall. Dein Wandel vollzieht sich im Fallen. Vor meinen Augen löst du dich aus deiner Form, gibst du dich preis, ganz und gar: verlierst dein Gesicht, deine Sprache, deine Gestalt, alles, was dich mit dieser Welt und ihren Menschen verbunden hat, vergisst alle Regeln und Konventionen, alles Richtige und Falsche, alles was sich gehört. Aufgaben und Verantwortungen gibt es keine für dich. Du befreist dich von allem. Stetig und unaufhaltsam, bis du völlig frei bist, gelöst von allem. Wie ein fallendes Blatt wirst du im Aufkommen, dann, wenn deine Seele deinen Körper vollends verlassen wird, das sein, was du immer warst: Liebe in reiner Essenz: sonst nichts. Nichts wird sich mehr spiegeln, alles ist eins mit allem geworden. Diesem Ereignis beizuwohnen ist eine Gnade, die mir alles abverlangt und mir gleichzeitig alles schenkt:

Ich lerne durchzuschauen, durch die Oberfläche der Form, durch deine Gestalt, deinen Körper, dein Verhalten. Wenn ich dem standhalte, was ist, wie du dich mir jetzt zeigst, ohne mich dagegen aufzulehnen oder es ändern zu wollen, dann begegnet mir in deinen Augen und in deinem Sein das Leben selbst: die Liebe! Dann "erkenne ich, wie ich erkannt bin und erkenne dich, wie du erkannt bist" .

 

Meine Marie, die ich über alles geliebt habe, löst sich auf, zerfällt unaufhaltsam. Ich lerne mehr und mehr, es sich vollziehen zu lassen. Es ist der Weg deiner Seele. Jede geht ihn einzigartig und auf ihre besondere Weise. Mein Aktionismus und meine Verzweiflung, in die ich zuweilen verfalle, sind zwar verständlich, aber überflüssig. Sie wollen Dich für mich halten. Nichts ist zu halten. Nicht ICH, nicht DU.

 

Wenn alles Streben und Halten in uns stirbt, dann sind wir frei. Das ist das Ziel. Wir sind auf dem Weg.

Jenseits aller selbstsüchtigen Ich-Spiele sind wir umfangen von "etwas", das weit über ICH und DU hinausreicht, das über alles hinaus reicht, was wir jemals waren. "Etwas", das unbenannt und unerkannt bleibt und doch immer da ist, gegenwärtig, in dir, in mir, in allem. Dieses Geheimnis ist das Leben selbst.

Und wenn wir eines Tages unseren freien Fall vollenden und unser Körper stirbt, wird es sein, wie "nackt im Wind zu stehen und in der Sonne zu schmelzen": EINS mit allem - alles in allem.