Leseprobe:

Botschaften

Januar 2020

"Malen war schon als Kind eine Leidenschaft von dir. Belohnung, wenn du dich während der Sonntagnachmittagsbesuche bei Oma und Tante Paula endlich mit einem Blatt Papier und ein paar Buntstiften in eine Ecke verziehen durftest, um den langweiligen Gesprächen der Erwachsenen zu entkommen.

Später, als junge Frau hast du ungeheuer skurrile und morbide Bilder gemalt. An der Kunstakademie hat man sie nicht verstanden. Die Liebe zur bildenden Kunst ist dir geblieben. Selbst gemalt hast du allerdings nur noch selten. Ein Mal im Jahr, an Silvester einen Drachen, das allerdings war eine Tradition!

Seit die Krankheit mehr und mehr dein Denken verändert und einschränkt, bereichert das Malen mehr und mehr unser Leben. Lange noch hast du ganz allein für dich wunderschöne Bilder gemalt. Irgendwann ging die Fähigkeit, dir etwas vorzustellen und damit auch die Möglichkeit aus dir heraus, etwas darzustellen, verloren. Du brauchtest also Vorlagen. Trotzdem hast du niemals nur abgemalt. Das hätte dir nicht entsprochen. Du brauchtest zwar eine Anregung, aber dann kam etwas in Fluss. Alle diese Bilder tragen deine Handschrift. Es sind absolute Unikate.

 

Dein Jim Knopf Bild mit der Lokomotive etwa! Es stammt aus dieser Zeit. Ein absoluter Hingucker! Jetzt hängt es über deinem Schreibtisch. Ein anderes Highlight dieser Phase, das letzte, ist dein Zwerg, mit der roten Mütze, einer schwarzen Schaufel und einer hellen Lampe in der Hand. Er hat rote Clowns-Bäckchen und blickt mit strahlend offenen Augen in die Weite. Hinter ihm liegt der Ausgang einer Höhle, deren hellblaue Öffnung um seinen Körper zu strahlen scheint.

Danach gingst du in die Einfarbigkeit und schließlich ins Dunkel.

 


Zunächst gelang der Umsetzungsprozess von dem, was du siehst, aufs Papier nicht mehr. Du konntest nicht mehr abmalen. Damit kam die Zeit des Ausmalens. Noch benutztest du Buntstifte und hast die Motive als solche erkannt und koloriert. Irgendwann wurden sie einfarbig rot oder grün. Die Farbe wurde unwichtig.  Und danach kam der Bleistift und alles wurde schwarzweiß. Die Welt der Farben und Formen verschwand.

 

Ich beginne MIT dir zu malen. Ich, die ich gar nicht malen kann, versuche es. Immer wieder versuchen, nichts als gegeben hinnehmen. Immer wieder einen Weg suchen, wohin er auch führen mag. Das ist es, was ich lerne und lebe mit dir. Immer wieder höre ich dich sagen: "Versuchen, wenigstens versuchen". Das hast du selbst gelebt und ich versuche es jetzt auch mit dir.

Also male ich mit Bleistift einfach einen Kreis aufs Papier, mache zwei Punkte rein und warte. Du nimmst den Bleistift, machst daraus sehr zielstrebig und klar ein Gesicht. Ich beginne einen Körper anzudeuten. Auch den vollendest du. Sowohl die Gesichter, als auch die Körper und ihre Armstellungen sind immer ähnlich. Wenn du ins Stocken kommst, zeichne ich ein kleines Stückchen weiter, dann folgst du. Auf diese Weise gestalten wir gemeinsam unsere Bilder. Wir sprechen dabei sogar. Wenige einfache Sätze: "Das ist eine Prinzessin auf ihrem Pferd". Ich erahne die Themen, die dich erreichen. Wirklich verstehen kannst du Worte nicht, aber sie lösen etwas in dir aus, wenn man die Richtigen findet. Sie sind wie Schlüssel: Pferde, Prinzessinnen, Elfen, Zauberer und Clowns natürlich! Es gibt vieles, was als Inspiration dient. Ich stöbere in alten Kinderbüchern und in unserer Postkartensammlung nach Motiven!

 

Irgendwann beginne ich Worte neben das Gemalte zu schreiben." Das ist eine Prinzessin", etwa. Du schreibst die Worte nach, obwohl dein Gehirn sie nicht mehr versteht. Zunächst überschreibst du mein Schriftbild, um anschließend das Wort immer wieder selbst zu schreiben. Wiederholungen in deiner schönsten Schrift. Manchmal fällt dir, während du immer wieder dasselbe Wort schreibst, plötzlich selbst ein Wort ein oder du veränderst das Wort und kreierst ein neues. Auch wenn es keinen Sinn macht, gibt es der Geschichte einen neuen Impuls und so kommt eins zum andern. Es ist dabei sehr innig und still zwischen uns und wir sind beide ganz präsent in dieser Kommunikation der Herzen und Sinne, jenseits aller Logik und allem kognitiven Denken. Solche Stunden sind etwas ganz Besonderes und natürlich nicht machbar. Sie ereignen sich.

Unser Bild ist anschließend umringt von Worten und Sätzen, die manchmal ganz erstaunlich sind. Lustig, skurril und ab und zu zeigt sich ein ganz typisches Wort, das deinen Tiefen entstiegen ist. So ist das Pferd etwa lässig!

Dass so etwas geschieht, ja geschehen kann, ist um so erstaunlicher, weil dein Gehirn wirklich kaum noch versteht. Also gibt es wohl "etwas" in dir, das sich ausdrücken kann und will und dafür auch Mittel und Wege findet.

 

Manchmal bereite ich abends, während du schon beim Abendessen bist, bevor ich wieder in meine Wohnung fahre, etwas für dich vor. Als kleinen Gruß sozusagen, den du auf deinem Tisch vorfindest, wenn du später in dein Zimmer zurückkommst.

Für heute Abend habe ich eine Postkarte mitgebracht, von der ich ahne, dass sie dir gefallen wird. Ich selbst brauche Vorlagen, weil ich sonst gar nicht malen kann.

Sie zeigt ein weißes Pferd mit Flügeln auf dem ein Mädchen sitzt. Ziemlich kitschig, ich weiß. Aber das ist absolut kein Kriterium. Ich male auf ein weißes DIN A4 Blatt das Motiv ab, so gut ich eben kann. Dann schreibe ich einen kleinen Text in Anlehnung an Michael Ende dazu:

 

"Atreju reitet auf seinem Drachenpferd Fuchur durch den Himmel. Es ist Nacht und sie reiten durch die Sterne. Sie suchen die Prinzessin. Die Prinzessin ist verschwunden.

Das ist sehr traurig."

 

Noch während ich schreibe, wird mir bewusst, dass das im Grunde unsere Geschichte ist: "Etwas" in mir, sucht "das Etwas" in dir, was unvergänglich ist, was bleibt und das Sterben unserer Körper überleben wird, ja, in keinster Weise davon betroffen ist. Genau das suche ich mit all meiner Herzenskraft.

Ich lächle und freue mich an diesem Bild und seiner Geschichte. Denke daran, dass du als Schulmädchen davon geträumt hast, auf einem schwarzen Hengst in den Schulhof einzureiten. Auch darüber muss ich lächeln. Das Bild wird dir gefallen. Ich weiß es.

Ich lege dir alles bereit. Die Malvorlage auf deine Schreibunterlage. Daneben den Bleistift, du brauchst ihn nur noch in die Hand nehmen. Deinen Stuhl rücke ich etwas nach hinten, damit er dich einlädt Platz zu nehmen. Solche Arragements brauchst du, um in Gang zu kommen. Ob sie tatsächlich zu dir sprechen, bleibt offen. Alles ist Versuch und Angebot.

 

Als ich am anderen Tag zu dir komme, liegt das Bild fertig auf deinem Schreibtisch. Du hast gearbeitet! Es ist vollständig ausgemalt und aufs Schönste verziert. Den Text hast du nachgeschrieben. Ich finde darin sogar eine eigene Botschaft, von dir!

 

"Die Prinzessin ist verschwunden. Sie trägt Verantwortung!"

 

Ich muss mich setzen. Natürlich verstehe ich sofort. "Du trägst Verantwortung" in dem, was du tust. Ich habe es immer geahnt, dass deine Seele "etwas" Wichtiges bearbeitet und lebt in diesem Prozess, den wir Krankheit nennen. Jetzt hast du es mir gesagt.

In mir ist es ganz still und ich weiß, dass das mehr sind als Worte. "Etwas" in dir hat diese Worte gefunden und will sie mitteilen. Das ist ein Wunder. Es ist wundervoll. Ich danke dir für diese Botschaft und sage dir, dass ich mich sehr freue, über das Bild und deine Worte.

 

Einige Tage später erhalte ich eine weitere Botschaft dieser Art: Diesmal male ich ein Bild vor, auf dem zwei Kinder in einem Boot sitzen und rudern. Darüber schreibe ich dir unseren Hochzeitsspruch, inspiriert von Reiner Kunze:

 

"Rudern zwei ein Boot,

wird die eine führen durch die Sterne,

wird die andere führen durch die Stürme

und am Ende, ganz am Ende, wird

das Meer in der Erinnerung blau sein".

 

Als ich am nächsten Tag komme, hast du die Worte abgeändert:

 

Am Ende wird das Meer in dir blau sein!

 

Schöner und treffender kann man es nicht sagen. Du weißt es also. Nicht in der Erinnerung, "ist das Meer blau", das wäre nicht viel und dann hättest du jetzt nichts mehr! Nein, es ist blau in dir und in mir und in allem!

Immer mehr zeigt sich dieses "Etwas", das ich suche. Auch wenn dein Gehirn, dein Körper es nicht mehr sagen können, gibt es Bewusstsein in dir, das lebt und sich ausdrückt und erfährt.

Nein, wir sind wirklich nicht in diesem Körper eingeschlossen. Er ist nur eine Behausung für die Erfahrungen, die wir auf dieser Welt machen. Irgendwann, früher oder später, wird er brüchig und morbide und stirbt. Das ist so und wir sollten aufhören, aus dem Tod ein solches Drama zu machen.

Jenseits unserer körperlichen Existenz lebt etwas völlig Anderes, "etwas Freies, ein Geist, der die Erde umhüllt und sich im Äther bewegt" (Khalil Gibran). Dieses Etwas ist nicht geboren und wird nicht sterben. Es ist das Meer in dir und mir und in allem und es ist blau."