Leseprobe:

Dein "schwäbisches Mädchen" -

Deine gute treue Seele

                                            Januar 2019

 

"Es gibt ein Foto von mir, da bin ich gerade mal 20 und frisch nach Wuppertal gezogen. Ich hatte es extra für meine Mutter beim Fotografen machen lassen. Warum ich ihr dieses Geschenk gemacht habe, weiß ich nicht mehr. Vielleicht als Erinnerung? War ich doch weit weg von der Heimat. Für Schwaben beginnt der Norden ja bekanntlich schon jenseits des Main.

Es zeigt eine junge Frau im Portrait. Kurzes dunkelbraunes Haar, gemachte Locken. Die Frisur ist brav. Ihre Augen strahlen, ja das tun sie. Sie wirkt rechtschaffen, bieder und redlich. Ein bisschen altmodisch für die späten 70er Jahre. Der karierte Blusenkragen liegt ganz ordentlich über dem dunkelbraunen Pullover. Sie lächelt und zeigt ihre schönen Zähne.

Dieses Bild hast du dir ausgesucht unter vielen, die ich dir, als wir frisch und unsterblich verliebt waren, von mir gezeigt habe. Damals war ich allerdings 45. Aber genau dieses Jugendbild wolltest du. Es sei der Ausdruck meiner Augen, sagtest du.

Dem, was du in meinen Augen gesehen hast, dem, was dich da anblickte, wolltest du dich anvertrauen, schenktest du dein ganzes Vertrauen, bis heute.

"Das Auge ist des Leibes Licht", fällt mir dazu ein. Dieses Bild hing bis zuletzt an deinem Bett. Vielleicht sollte ich es dir wieder aufhängen, dort, wo du jetzt bist.

 

Ich sehe mich noch mit meinen knapp 20 Jahren zum ersten Mal durch die Uni gehen. Dieser riesige hässlich graue Betonklotz - ein Irrgarten aus Türmen, die Buchstaben als Namen trugen, mit Ebenen und nicht mit Stockwerken, die nummeriert waren und auf geheimnisvolle Weise, die Türme miteinander verbanden. Mein württembergisches Kleinstadtgehirn lernte, dass ich mich im Gebäude O auf den Ebenen 10 und 11 für die kommende Zeit einzurichten hatte. Dort waren die Geistes- und Sozialwissenschaften angesiedelt. Für sie hatte ich mich entschieden, nachdem mein Plan, "Rhythmik" an der Musikhochschule zu studieren, geplatzt war.

Voller Hoffnung und Mut, allerdings auch grenzenlos naiv, aber voller Vertrauen in "Gottes Führung", ging ich damals zur Aufnahmeprüfung und wurde dort rigoros abgelehnt. Nicht so sehr wegen mangelnder Fähigkeiten, sie waren ausbaufähig. Nein, die Professorin lehnte mich als Person ab. Sie spürte etwas von meiner tiefen Verlorenheit. Für sie handelte es sich um "schwere Fehler meiner Erzieher", für die ich zwar nicht verantwortlich sei, aber so wie ich war, konnte sie mich nicht gebrauchen.

Ich verstand nichts und ein Trost war es auch nicht. Gedemütigt und gekränkt ging ich damals weg und war ohne Plan B. Renate, meiner Gefährtin dieser Lebenszeit, verdanke ich im wahrsten Sinne des Wortes, dass ich überlebte.

Ich schrieb mich schließlich für Sozialwissenschaften ein, im Glauben, es sei so etwas Ähnliches wie Sozialarbeit. Dass auch das ein Irrtum war, dämmerte mir erst allmählich. So weit, so gut.

 

Dieses Wesen, das dich auf jenem Bild anblickte, suchte seinen Weg und wenngleich es naiv, weltfremd und wie es gehört hatte gestört war, so hatte es Mut und große Kraft und es lebte in aller Verschrobenheit eine tiefe Frömmigkeit in ihm.

Mit dieser Ausstattung zog ich los. Meine Tasche zierte der Aufkleber "Jesus liebt dich". Ich war mir nicht im Klaren, was das Ende der 70er Jahre im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an einer Uni in Nordrhein-Westfalen bedeutete.

Ich blieb eine Außenseiterin. Am Rand stehen - beäugt werden - das kannte ich.

Viel später vertraute mir eine Kommilitonin an, die ich gegen Ende der Uni- Zeit etwas näher kennenlernte, dass öfter gefragt wurde, mit Blick auf mich: "Kennst du die?" Und die Antwort war: "Muss man die kennen?" - Nein, musste man nicht. Ich war seltsam, komisch, anders und fiel deshalb auf. Vielleicht machte es mich sogar ein bisschen interessant. Das blieb lange so. Vielleicht bis heute.

 

Unendliche Mühen hatte meine Seele, sich durch die Verkrustungen und Verwundungen einer verletzten, gedemütigten und völlig verstörten Persönlichkeit zu arbeiten.

Die Mosaiksteine eines fragmentierten ICHs aufzusuchen und zusammenzufügen, glich einer Sisyphosarbeit. Es bedurfte zahlloser Lebensversuche, Misserfolge, Scheitern, Wiederaufrappeln, neue Rollenspiele lernen und ausprobieren, danebengreifen. Versuche über Versuche, manche endeten kläglich, andere hielten ein paar Jahre, um dann zu zerbrechen. Meine Existenz war und blieb für mich beschämend.

Am Ende eines langen Weges habe ich mir versprochen, mich für nichts, aber auch für gar nichts zu schämen, was ich gelebt habe.

 

Ich begann mich wertzuschätzen in meinen unermüdlichen Versuchen ins Leben zu kommen, mir das Leben zu nehmen und spürte hinter alledem die Würde und die Kraft einer großen Seele, erkannte ihre Kostbarkeit und ihren Glanz. Heute weiß ich, dass du sie damals schon gesehen hast, in diesem alten Bild. Damals schon hast du mich im Tiefsten erkannt.

Dein bedingungsloses Wollen galt meiner Seele und gab dir das Vertrauen zu bleiben und auszuharren, als sich die letzten verbarrikadierten Türen in mir öffneten.

Du hast an ihr festgehalten und an sie geglaubt, in allen Verstellungen und Maskeraden. Du hast sie gesehen und gerufen, wenn ich in den Katakomben meiner beschädigten Persönlichkeit umherirrte und nichts mehr sehen und fühlen konnte.

In deinen wunderbaren Mandelaugen habe ich mich wieder gefunden und wurde heil.

"Jetzt erkenne ich es stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin" - so habe ich es erlebt durch dich. So steht es schon im Hohen Lied der Liebe (1.Kor.13/12).

 

Geliebtes Wesen, deiner Beharrlichkeit, deinem Mut und deiner Tapferkeit, Leid zu tragen und hindurchzuschauen verdankt meine Seele, dass sie ein Zuhause hat.

Die Behausung deiner Seele löst sich jetzt in deiner Krankheit allmählich aber stetig, mehr und mehr auf. Deine Möglichkeiten zu denken nehmen immer mehr ab. Deine Persönlichkeit zerfällt. Dein Körper wird irgendwann folgen.

Deine Seele steht an der Schwelle und ich sehe sie oft suchend und fragend in deinen Augen. Das sind AugenBlicke, die mich zutiefst rühren und oft auch quälen.

 

Geliebtes Wesen, du sollst wissen, dass du immer heimkehren kannst, so lange und so oft du willst, heimkehren in unserer Augen Blick, um dich zu erinnern, um dich zu finden und zu erkennen, was du im Tiefsten bist: kostbar, wunderschön voller Würde und Liebe: eine große Seele.

Solange du an der Schwelle stehst, will ich dir meine Augen hinhalten, damit du vor Anker gehen kannst in dieser Welt, wenn du es willst.

Und ich ahne - nein, ich weiß es - dass uns dieses Schauen bleiben wird - ewiglich, auch wenn du einst über die Schwelle gegangen sein wirst.

Immer deine treue, deine gute Seele."