Leseprobe:

Prolog

"Als wir 2001 aufeinander treffen, ist keine von uns ein unbeschriebenes Blatt.

Hinter jeder liegt wohl ein halbes Leben. Du bist Ende 40 und lebst in einer komplizierten Beziehung mit Vera, der Liebe deiner Jugend. Nach dem Abitur hatten sich eure Wege getrennt. Jede gründete eine eigene Familie. Mit Mann und Kindern lebtet ihr weit entfernt voneinander. Nach Jahren gab es dann ein Wiedersehen. Danach wagtet ihr ein gemeinsames Leben: Zwei Frauen, Anfang der 90er Jahre, geschieden oder in Scheidung lebend, berufstätig, unter einem Dach mit 4 Kindern, die sich erst kennenlernen mussten und ihre Väter und Geschwister vermissten. Und auch ihre Mütter lernten sich erst wieder neu kennen. Eine schwierige Kräfte zehrende Aufgabe, in der jede gab, was sie irgend konnte. Ein Jahrzehnt, in der Hoffnung, die Liebe würde überdauern in die Zeit nach den Kindern. Bald sind sie flügge!

Ich bin Mitte 40, lebe in einer prekären Situation. Nach einem Hausbau mit zwei Freundinnen ist klar, dass es keine gemeinsame Zukunft gibt. Mein Leben ist bis dahin immer vorläufig und vulnerabel gewesen, meine Beziehungen waren es auch.

Ich suche bewusst einen Menschen, mit dem ich leben kann. Du bist nicht auf der Suche. Oder ist es dir nur nicht bewusst?

Nach den ersten Begegnungen gibt es ganz schnell kein Zurück-wollen - es ist zweifelsfrei, wir gehören einander an – eine Herzensangelegenheit. Obwohl die äußeren Bedingungen sehr ungünstig und schwierig sind. So ist der Vollzug auch steinig und reißt Wunden: in unseren Herzen und in den Herzen derer, die wir verlassen.

Unser gemeinsamer Weg beginnt also, in aller Leidenschaft und großer Glückseligkeit mit Trennungen, Schmerzen, Abgründen und Verletzungen. Die Abschiede gelingen nicht im Guten.

Trotzdem wollen wir diesen Weg und gehen ihn, gewissermaßen kompromisslos.

2003 heiraten wir. Es heißt damals noch Verpartnerung oder Lebenspartnerschaft und bringt uns zu dieser Zeit nur Nachteile, sprich gegenseitige Verpflichtungen.

Das kümmert uns nicht. Wir wollen einander angehören, wollen unserer Liebe ein öffentliches Gesicht geben und auch einen gemeinsamen Namen tragen. Dies ist der Grund unserer Hochzeit!

Die folgenden Jahre sind eine Flut von Leben, ein volles Maß:

Wir stemmen in knapp zehn Jahren einen Hauskauf und Wiederverkauf in Frankreich, kaufen und bewirtschaften einen Schrebergarten, deine jüngste Tochter zieht aus, deine andere Tochter kündigt dir für zwei lange Jahre den Kontakt auf, du beginnst eine Psychotherapie, trotzdem feiern wir Feste. Du schreibst Clownsstücke und wir treten öffentlich auf. Wir lernen Bogenschießen, nehmen gemeinsam Reitstunden und reiten aus, gehen auf Reisen, erstehen einen ausgebauten VW-Bus und ziehen damit los. Du eröffnest eine Heilpraktikerpraxis, lernst russisch, nimmst Gesangsunterricht und machst Clownskurse. Ich lerne Handharmonika, nebenbei gehen wir arbeiten: Ambulante Pflege, machen eine Zusatzausbildung für Palliativpflege, Frühdienste, Spätdienste, Wochenenden, Rufbereitschaften. Wir überwintern Igel. Ein Hund kommt in unser Leben. Deine Mutter wird im hohen Alter dement. Wir betreuen sie lange mit professioneller Hilfe zu Hause. Die letzten eineinhalb Jahre ihres Lebens verbringt sie in einem Heim ganz in unserer Nähe. Wir lösen ihre Wohnung auf, in der du einen Teil deiner Kindheit verbracht hast. Ein riesen Projekt.

In diesen Jahren wirst du mehrmals Oma. Eine deiner Töchter feiert eine fulminante Hochzeit, auf der du eine geniale Rede hältst und wo sehr spürbar ist, warum deine Kinder so stolz auf ihre "Mama" sind.

2010 hörst du auf zu arbeiten. Es reicht. Es ist ein volles, ein buntes Leben, mit großen Höhen und Tiefen, zuweilen nimmt es einem den Atem. Ob du spürst, dass uns nicht viel Zeit bleibt für unsere Pläne? Und derer sind viele!

Als ich 2010/2011 "etwas" wahrnehme - ohne es benennen zu können - etwas, das unser Miteinander allmählich verändert, ja, entleert, kannst du mein Wahrnehmen nicht mit mir teilen.

Du erlebst es Jahre zuvor. Aber auch für dich ist es nicht greifbar, nicht fassbar.

Warst du nicht immer schon schusselig und zerstreut? Das scheint zu dir zu gehören. Schon als Kind hast du deinen Turnbeutel mehrmals in der Woche an der Bushaltestelle liegen lassen. Am Fundbüro kannte man dich.

Du hast immer sehr klar mit der Möglichkeit und der Angst gelebt, es könne dir, wie deinem Vater gehen, der mit Mitte fünfzig dement wurde und mit Anfang 60 in der Psychiatrie starb. Ich weiß, dass dich diese Angst stets begleitet hat. Mit welcher nüchternen Klarheit du allerdings dieses Schicksal für dich gesehen hast, erfasse ich erst, als ich deine Sachen ordne, nach deinem Auszug ins Altenheim 2018.

Dass die Krankheit, die unaufhaltsam über dich kam, die nicht nur dich, sondern auch mich und unser ganzes Leben völlig veränderte, Frontotemporale Demenz genannt wird, weiß ich erst seit 2017.

Für dich ist das bedeutungslos. Für mich im tiefsten Grunde auch. Was allerdings von höchster Bedeutung ist - und das ahnte ich wirklich nicht: Dieser Weg durch die Demenz ist die Vollendung unseres gemeinsamen Herzenswegs.

2001 waren wir unsterblich verliebt. Allein auch das währte nicht ewig, selbst unsere Liebe wurde normal. Und doch war in der Tiefe immer etwas zwischen uns, was alle Untiefen und Abgründe in uns und zwischen uns trug. Es blieb all die Jahre, auch in den Jahren der Verdunkelung, als deine Krankheit noch schlief, im Verborgenen arbeitete, und dich und unsere Beziehung allmählich aushöhlte, ja hohl werden ließ.

Ich erinnere mich an deinen Silvesterdrachen 2013. Wir haben zu jedem Jahreswechsel einen Drachen gemalt - ein liebgewordenes Ritual.

2013 trägt deiner ein kleines Köfferchen in der Hand! In diesem Jahr ist deine Mutter gestorben: die letzte Aufgabe, die du glaubtest erfüllen zu müssen. Da spätestens gehst du endgültig auf Reisen. Allerdings ohne dich zu verabschieden. Deshalb sind die folgenden Jahre dunkel, seltsam, einsam und verstörend und sehr sehr schmerzhaft, ja, ich ertrage sie kaum. Wie du sie erlebt hast, bleibt dein Geheimnis.

Jetzt ist die Verdunkelung vorüber. Es mag seltsam klingen, aber wir haben uns auf dem Weg durch die Demenz wiedergefunden und gehen ihn gemeinsam, als Herzensweg.

Von diesem Erleben handelt das folgende Buch.

Es ist kein Lehrbuch und entfaltet auch keine neue Theorie über Demenz.

Vielmehr beschreibt es den ganz persönlichen Weg zweier Herzen, die sich nicht lassen können.

Es ist nicht chronologisch geschrieben, eher assoziativ und es empfiehlt sich, dieser Assoziationskette zu folgen, um die Entwicklung wirklich, im Herzen, mitvollziehen zu können.

Dieses Buch ist ein Zeugnis der Liebe. Nicht allein einer Liebesbeziehung, sondern auch und vor allem der großen Liebe, in der wir eins sind, die wir im letzten sind und die unsere tiefste Sehnsucht ist und stillt. Wenn sie sich uns offenbart, wenn wir uns in ihr erkennen, ja, wenn wir einander in ihr erkennen, dann sind wir angekommen.

In diesem Sinne ist dieses Buch auch ein spirituelles Buch.

Es beschreibt und zeigt, dass der Weg durch die Demenz sowohl für den Betroffenen, als auch für den Angehörigen, ein Weg sein kann, diese Liebe zu erfahren, ja, sie zu werden.

Indem Marie den Weg in die Demenz gegangen ist, hat sie uns diese Tür geöffnet. Dafür bin ich ihr unendlich dankbar und erkenne darin die Größe und Stärke ihrer liebenden Seele. Dass ich ihn mit ihr gehe, ist Ausdruck der Liebe, die sich selbst nicht lassen kann. So vollendet unser Weg durch die Demenz unsere Liebe und lässt uns über uns hinauswachsen.

Wir werden uns niemals verlieren, denn unser tiefstes Wesen ist Liebe. In ihr sind und bleiben wir unverlierbar verbunden auch über den Tod hinaus.

Ich bin sicher, dass Menschen, die an Demenz erkranken und durch diese Krankheit gehen, genau diese Botschaft mit uns teilen wollen und können. Es ist möglich, wenn wir ihnen bedingungslos unser Herz öffnen.

Mit ihnen Leben zu teilen, in welcher Form auch immer, ist Geschenk und Gnade.

Ihre Botschaften sind wie Sternschnuppen aus einer anderen Welt. Sie können sich in unseren Herzen zu einem Juwel verwandeln, wenn wir ihnen Raum geben."