Leseprobe:

Verbundenheit

März 2019

"Jetzt ist es ein Jahr her, dass du nicht mehr nach Hause gekommen bist. Du wurdest morgens wie immer mit dem blauen Bus zur Tagespflege abgeholt und bliebst dann dort. So war es verabredet und geplant, von mir. Ich habe entschieden, für uns: für dich, für mich. Ganz allein mit mir. Und doch fügte es sich auch. Ich bin gegangen und ließ mich und uns tragen. So fühlte "es" sich an.

 

Dein Wüten wurde immer heftiger. Ich konnte dich nicht mehr halten. Manchmal hatte ich Angst, vor den Kräften, die in dir walteten. Meine Kräfte hatten sich erschöpft. Der Kampf hatte kein Ziel mehr. Ich musste aufgeben, überließ uns dem freien Fall und sprang, in die völlige Ungewissheit.

 

Zunächst das Telefonat mit dem Leiter der kleinen stationären Einrichtung, zu der auch deine Tagespflege gehört. 15 Menschen leben dort in einer alten Jugendstil-Villa. Er wollte es versuchen mit dir und uns. Dass deine Erkrankung eine Herausforderung für die Mitarbeiter sein würde, war ihm klar. Dass auch wir beide nicht zum typischen Altenheimklientel gehören, war ihm auch bewusst. Ein Versuch also für 3 Wochen. Sobald ein Platz frei würde! Der Rückruf kam dann innerhalb weniger Tage. Am 13. März 2018 konntest du kommen.

 

Unser letzter gemeinsamer Sonntag zuhause: Obwohl diese Tage oft besonders mühsam und schwierig waren, wurde der letzte ein Highlight! Ich weiß nicht mehr warum, ich holte unsere Brillensammlung aus dem Schrank mit unseren Clownssachen. Die skurrilsten Modelle: alte Brillen deiner Mutter, aus den 60iger und 70iger Jahren, solche mit Bärtchen, andere mit Vergrößerungs - und Verkleinerungsgläsern, womit man besonders komisch aussieht - gesammelte Werke eben. Das traf an diesem Tag deine Stimmung voll. Wir veranstalteten ein Brillen- Verkleidungsfest, fast wie früher, haben Tränen gelacht, auch das gab es schon lange nicht mehr! Es war wahrscheinlich das letzte Mal, dass wir so etwas miteinander erlebten. Es bleibt unvergessen. Anschließend hast du alle Brillen fein säuberlich in Geschenkpapier eingepackt und ganz fest mit Tesafilm zugeklebt, jede einzeln, um sie ganz ordentlich wieder in den Schuhkarton zurück zu sortieren, in dem sie aufbewahrt waren. Dann kam plötzlich ein Gewitter auf. Ich weiß noch, wie ich im Erkerzimmer stand und beobachtete, wie ein Regenbogen über uns am Himmel erschien. Er war doppelt. Dieses Himmelszeichen hatte für uns stets besondere Bedeutung, stand es auch über uns, als wir uns in Mecklenburg ganz zu Anfang unseres Weges einander versprochen haben. Es verbindet sich auch mit dem letzten Campingurlaub mit Funny auf der Königskanzel im Schwarzwald. Auch da erschien der Bogen über uns nach einem heftigen Gewitter, das ich mit Funny im Zelt überstand, während du allein unterwegs warst, zu Fuß, um Kuchen zu holen. Wir waren so froh, als wir wieder beieinander waren. Ja und jetzt, an diesem letzten Tag unseres gemeinsamen Lebens unter einem Dach, breitete er sich wieder über uns aus. Das ging mir so zu Herzen und tröstete mich in ganz tiefen Schichten. Ich spürte, dass wir gehalten sind, auch jetzt, wo sich alles aufzulösen begann. Ich lief nach draußen, um ihn in ganzer Schönheit und Pracht zu sehen und ein Foto zu machen. Dir war das Einpacken der Brillen jetzt wichtiger. Diese Tätigkeit konntest du nicht unterbrechen, das wusste ich.

 

Am Abschiedsmorgen war es dann wieder schwer und laut. Du warst sehr wütend und aufgebracht. Als der blaue Bus zum letzten Mal am Ende unserer Straße um die Ecke bog, war ich unendlich traurig und erschöpft. Ich packte deine Sachen zusammen und fuhr hinterher, um dein Zimmer für dich vorzubereiten, damit am Nachmittag, nach der Tagespflege, alles für dich bereit war. Von alledem wusstest du nichts. Du konntest solche Zusammenhänge längst nicht mehr verstehen. Trotzdem habe ich es dir immer wieder gesagt. Was du davon aufnehmen konntest, weiß ich nicht.

 

Es ist ein Doppelzimmer. Ich nehme es hin, frage nicht, denke an die Rilke-Worte: "...du musst nur gehen, kein Gefühl ist das fernste, lass dir alles gefallen, Schönheit und Schrecken…" Aber es gibt eine Tür in den Garten! Das Zimmer ist ebenerdig und hat eine eigene Terrasse. Es ist wunderschön groß, mit vielen Fenstern und es ist hell. Auf dem Boden liegt altes Holzparkett! Ein Schrank, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Sessel.

So beginnt es, unser neues, unser zweites Leben.

 

Seither ist fast genau ein Jahr vergangen.

Es ist gut, dass du in diesem Zimmer bist. Ein besseres gibt es für dich nicht. Und auch wenn du mit deiner Nachbarin nicht sprichst, du sprichst ohnehin nur noch wenig, habt ihr dennoch ein Verhältnis, "etwas" verbindet euch, das ist spürbar. Du machst ihr immer das Bett fertig, drapierst ihre Kissen und ihre Puppen und Bären darauf. Du isst auch ihre Schokolade, wenn sie sie nicht einschließen oder benutzt ihr Parfüm und ihre Handtücher. Du "liest" sogar ihre Post, die sie auf ihrem Schränkchen stehen hat. Auch das hat seinen Charme und einen Zauber.

Sie selbst ist fast nur zum Schlafen im Zimmer, meistens sitzt sie drüben im Wohnzimmer bei den andern. Nein, sie nimmt dir deine Eigenheiten nicht übel. Auch das ist Gewebe von Leben auf einer ganz eigenen Ebene!

So hat sich inzwischen vieles ineinander gefügt. Nach Hause wolltest du nie. Dafür bin ich im letzten unendlich dankbar. Du bist da, ganz und gar.

 

Was verbindet uns jetzt noch. Das Dach über dem Kopf ist es nicht mehr. Liebe, im Sinne eines Gefühls ist es auch nicht mehr. Unsere Beziehung in ihrer alten Form ist vorbei. Sie ist Vergangenheit, gleichwie auch DU es bist, ICH übrigens auch.

 

Und doch: die Liebe ist geblieben. Ich erlebe sie oft so stark, dass ich weine. Nicht, weil ich etwas bedauern würde oder traurig bin. Es sind so tiefe und scheinbar unvereinbare Empfindungen, die ineinander gleiten: Schönheit und Dankbarkeit, eine tiefe Verbundenheit mit dir, die fast schmerzhaft ist und mein Herz zutiefst berührt und anrührt, es ist kaum zu beschreiben.

Die Liebe, die zwischen uns ist, gilt dem Leben: in dir, in mir, in allem Lebendigen.

Sie sucht sich ihren Weg durch alle Erscheinungen und Formen und sie wird sichtbar und erfahrbar, in Augen Blicken, im Klang einer Stimme, die ihr Raum gibt, in Worten, in Musik, in Gesten.

Sie ist in der Stille und in einem Rotkehlchen, das vor mir sitzt. Sie bricht sich Bahn durch alles hindurch, selbst durch deine Krankheit.

Geliebtes Wesen, in dieser Liebe sind und bleiben wir verbunden, weil wir sie im tiefsten sind.Manchmal, brauche ich allerdings Zeit, das zu erken-nen.

 

Gestern hast du mir mit voller Wucht ins Knie getreten. Der Schmerz war enorm und kam völlig überraschend. Ich hatte nicht damit gerechnet. Dass du auf meine Arme schlägst, die inzwischen übersät sind von blauen Flecken, darauf habe ich mich eingestellt und lasse es geschehen, durch mich fließen und abfließen. Aber dieser Tritt war etwas Neues. Er kam unverhofft und ich reagierte spontan mit Panik, Schmerz und Angst!

ICH wollte dich ausziehen, was momentan mit ganz viel Geschrei und Gegenwehr verbunden ist und eindeutig gegen deinen Willen geschieht. ICH tue es trotzdem. Warum eigentlich? ICH meine, einmal in der Woche duschen müsse sein. ICH will verstehen, warum du wütest. Vielleicht gibt es da gar nichts zu verstehen? Gestern Abend war ICH geschockt, ja paralysiert und ICH tat mir leid.

Als ich dann heute Nacht im Bett lag und mein schmerzendes Knie beobachtete, wurde mir plötzlich klar, dass sich in diesem Schmerz ein Festhalten zeigt, auf körperlicher Ebene. Ein Festhalten dessen, was mir angetan wurde. Und mit dieser Geschichte, nimmt das Drama seinen Lauf! Ich wusste, wenn ich der Geschichte Raum gebe, werde ich einen Gelenkerguß bekommen, mit dem ich einige Wochen zu tun haben würde. Ich kenne mich damit aus.

So begann ich den Schmerz und seine Geschichte loszulassen, ließ mich in das große JA fallen, ließ die Energie dieses Erlebens abfließen, hörte auf, sie in mir zu halten und zu bewerten. Weder dein noch mein Verhalten. Der Schmerz fließt durch den Körper - mehr geschieht nicht - und er fließt ab. Wenn ich mir die Geschichte, die an dem Schmerz hängt, nicht ständig wieder und wieder erzähle, mich mit ihr nicht verbinde und identifiziere, wenn ich selbst mich lasse, loslasse, dann verschwimmen die Konturen - auch meine - es bleibt "nur" Offenheit, reines Sein.

Es ist wie ein Hinübergleiten in einen Raum, in dem sich alles vollzieht. In dem sich Leben in welcher Form auch immer ereignet. Dort gibt es keine Dramatik und keine Schwere. Dort ist alles aufgenommen, wie es ist!

In solchen Momenten löst sich das ICH will, ICH muss, ICH sollte oder auch das "es müsste anders sein" auf. Auf dieser Ebene gibt es kein ICH und DU - auch kein MEIN und DEIN - kein Richtig und Falsch und kein Gut und Böse. Es ist alles wie es ist. Sonst nichts.

 

Jenseits des ICH-Landes, der Verstandes-Welt der "reinen" Vernunft ist "reines Sein". Verbundenheit und Liebe, die in völliger Reinheit schwingen.

Dort bist du längst angekommen, geliebtes Wesen, das ist die Welt, in der wir uns jetzt begegnen. Das ist unser wahres Zuhause. Hier sind wir verbunden, waren es immer schon.Und auf dieser Ebene gibt es auch kein verletzen und verletzt werden zwischen uns.

Mein Knie hat übrigens rein gar keinen Schaden genommen, was dem gesunden Menschenverstand und aller Erfahrung spottet.

Du hast mir ein echtes Schlüsselerlebnis beschert!

 

In der Welt der Unterschiedenheiten, von ICH und DU, von Mein und Dein, von richtig und falsch, von gut und böse, erleben wir aneinander und durcheinander nach wie vor das Leben in seiner Vielfältigkeit und seiner Unbegreiflichkeit, seiner Gewaltigkeit und seinen Rätseln und in seiner Schönheit.

 

Vielleicht ist es gerade das, was du mich lehrst in deiner Krankheit.

"Es" ist nicht zu begreifen, zu verstehen, "es" ist nicht einzuordnen und auch nicht unter Kontrolle zu bringen oder gar zu bezwingen. Das alles ist es nicht. "Es" kann nur erfahren werden, so, wie es jetzt ist.

Das Band der Liebe weht zwischen uns, verbindet uns, gleich dem Regenbogen, der die unzerstörbare Verbundenheit von Himmel und Erde spiegelt. Deshalb kann nichts, aber auch gar nichts zwischen uns geschehen, was uns trennt, verletzt oder gar entzweit. Das weiß ich jetzt mit dem Herzen.

Und ja, ich werde weiter gehen mit dir. Nicht, um "es" richtig zu machen oder um "es" zu bewältigen, sondern um das Leben zu erfahren, wie es ist, in seiner ganzen Schönheit, Größe und Tiefe. Ich möchte ihm begegnen mit einem bedingungslos offenen Herzen und einem großen JA zu allem, was mir und dir, was uns und allem, was uns umgibt geschieht!

 

Geliebtes Wesen, du bist mir vorangegangen. Ich danke dir von ganzem Herzen, dass du mich rufst, immer wieder und immer noch!

Du, meine treue Seele - immer deine treue Seele.

 

Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm... denn Gott ist Liebe".