Leseprobe:

Ergebenheit

   März 2019

ROUDOUDOU

 

"Eine kleine Runde. 6 Menschen. Sie teilen ein Schicksal. Keiner von ihnen kann derzeit zu Hause sein, aus den unterschiedlichsten Gründen. Kurzzeitpflege - eine Wohnsituation auf Zeit.

Es ist Vormittag, wir sitzen um den großen runden Tisch im Wohnzimmer. Ab und zu wird ein Lied gesungen. Das verbindet. Dann fliegt ein Luft-ballon durch die Runde, er lockert auf, bringt uns in Bewegung und zum Lachen und mit einem Mal liegt eine Erinnerung auf dem Tisch.

Ein sehr alter Mann, er hat sich als Gerhard vorgestellt, beginnt zu reden. Er ist klein, wirkt sehr zierlich ja fast zerbrechlich in seinem Rollstuhl. Wahrscheinlich wird er sein Haus nie wieder betreten. Er wartet auf einen Platz in einem Altenheim. "Etablissement," nennt er es in der Vorstellungsrunde.

Jetzt erzählt er uns plötzlich von einer Zeit, als er noch nicht mal ganz 20 Jahre alt war. Es sind die Jahre 1944/45, er ist in französischer Gefangenschaft, die er in guter Erinnerung hat, ganz im Gegensatz zu den Erfahrungen des Krieges. Er hat Glück - bonne chance - und kommt auf ein französisches Schloss. Dort hat er es gut. Arbeit in der Landwirtschaft, "Madame" ist zufrieden mit ihm. Er schließt Freundschaft mit einem der Ponys. Roudoudou. Jetzt erinnert er sich sogar an den Namen des Tieres und lacht. Dann wird er ernst.

Eines Tages kommt Roudoudou ohne erkennbaren Grund ganz nah zu ihm, stubst ihn an und weicht nicht mehr von seiner Seite. Obwohl Gerhard nicht versteht, was das Tier will, läßt er es gewähren. Kurz darauf sieht er, dass der Postbote mit dem Fahrrad kommt, er hat Post für ihn, eine Seltenheit. Er liest: Sein Bruder ist gefallen. Das Tier an seiner Seite ist ihm jetzt ein großer Trost. Es wusste wohl, dass er, Gerhard, seine Nähe brauchen würde.

Ein Tier lebt offenbar in einer Verbundenheit mit anderen Lebewesen, die in uns Menschen ganz tiefe Schichten anrührt, sie geht zu Herzen.

Der alte Mann ist noch Jahrzehnte später berührt von diesem Erleben. Seine Zuhörer sind es auch.

 

FUNNY

 

Heute vor 10 Jahren waren wir in Berlin (5. März 2009). Weißt du noch?

Wir wollten uns in einer Tierherberge im Spreewald einen Hund holen. Eine Hündin sollte es sein, sonst hatten wir keine Vorstellung.

Ich sehe uns noch auf diesem Hofplatz auf einer Bank sitzen, umringt von unzähligen Hunden, aller Größen, Rassen, jeden Alters, aller Variationen. Sie wuselten um unsere Beine. Wir schauten uns fragend und ratlos an: "der richtige Hund?" Und da geschieht "ES": Auf einmal sitzt ein mittelgroßes kastanienbraunes Wesen mit ergrauter Schnauze zwischen uns. Es war von hinten auf die Bank gesprungen und knurrte die Konkurrenten weg. Die Entscheidung war gefallen. Wir nannten sie FUNNY.

6 Jahre lebte sie mit uns. Dann ist sie gegangen, von einem Tag auf den andern.

Es waren die Jahre, in denen sich deine Krankheit ganz allmählich aber stetig auswuchs.

Jahre, in denen du mir mehr und mehr entglitten bist, wie ein Boot, dessen Konturen immer mehr mit dem Horizont verschmelzen und doch blieb im Vordergrund "etwas" zurück, was mir fremd wurde und mich völlig verstörte.

Sanft, fast unmerklich und kaum greifbar, vollzog "ES" sich. Ich erlebte "ES" lange als banges Ahnen, das in einer sehr tiefen Schicht meines Bewusstseins verborgen, ja geschützt liegen blieb, dort meist still ruhte, auf seine Reifung wartend, um irgendwann, viel später als Erkennen voll ins Bewusstsein zu drängen.

Dazwischen lagen jene Reifungsjahre. Durch sie hindurch begleitete uns Funny. Mit ihrem Dasein hat sie uns gehalten, beieinander gehalten und zusammengehalten. Ob ich ohne sie geblieben wäre? Ich bin nicht sicher.

Auch dieser Zusammenhang ist erst viel später voll in mein Bewusstsein gedrungen und mit ihm eine tiefe Dankbarkeit.

Es waren die Jahre, in denen ein schleichender Prozess deine Persönlichkeit, dein Denken, ja deine Art zu Sein mehr und mehr unterwandert hat und uns allmählich voneinander entfernte, ohne, dass wir daran hätten etwas ändern können. Selbst eine Diagnose hätte nichts verhindert und keiner hätte sie zu diesem Zeitpunkt gestellt. Funny war in diesen Jahren an unserer Seite und blieb, obwohl auch sie vielleicht schon krank war, was damals keiner wusste oder ahnte. Sie hielt uns und sie hielt durch.

Ihre Hundeseele hat sich uns geschenkt, damit unsere Liebe diese Jahre der Verstörung und Entfremdung überleben konnte. Sie hat uns in Verbindung gehalten, als die Verbundenheit zwischen uns brüchig wurde. Oft, wenn ich glaubte, unser Zusammensein nicht mehr zu ertragen, harrte ich für Funny aus, weil ich ihr das Rudel nicht nehmen wollte. Es gab viele unschöne Szenen in dieser Zeit zwischen uns, in denen ich deine Anwesenheit, dein Sein eingefordert habe, mit aller Macht, die mir zur Verfügung stand, ohne dich jemals mehr zu erreichen.

Funnys Gegenwart in dieser ganzen Zeit tröstete mein Herz. Die Fürsorge für sie hielt mich in der Spur.

Waren es zunächst nur Nuancen, die in einem atemberaubenden Farbspiel fehlten und das Bild lediglich geringfügig störten, so verschwand mit den Jahren ein Ton nach dem andern in dem wunderbaren Klangteppich unserer Zweisamkeit. Die Klänge wurden hölzern, hart, blechern und schmerzten nicht nur in den Ohren.

Die älteste Erinnerung an dieses Erleben verbindet sich mit Telefonaten, als ich für einige Zeit in einer Reha-Klinik war. Funny war bei dir zuhause. Sie war damals gerade mal eineinhalb Jahre bei uns.

Wir telefonierten immer abends zu einer bestimmten Zeit miteinander. Obwohl äußerlich alles "normal" war, erschienst du mir in diesen Gesprächen seltsam fern. Deine Stimme klang nüchtern und unpersönlich, es fehlte "etwas", das ich nicht fassen konnte. Ich suchte dich in vertrauten Worten, Koseworten, trotzdem blieb "etwas" in mir unbeantwortet und unerfüllt in diesen Gesprächen, die Resonanz stimmte nicht, unsere Schwingungen fanden nicht mehr zueinander. Ein kaum beschreibbares Empfinden, mit dem du überhaupt nichts anfangen konntest, als ich dich danach fragte.

Ich erinnere eine große und tiefe Irritation, eine innere Leere und natürlich Angst, die vom Alltag zunächst wieder gnädig bedeckt wurde.

Irgendwann begrüßte mich Funny alleine an der Wohnungstür, wenn ich nach Hause kam. Du nahmst mein Kommen zwar wahr, bliebst aber auf der Couch vor dem Fernseher sitzen. Es war die Zeit der SOKOS. Jeden Abend eine andere. Funny schlief in ihrem Körbchen und wir saßen nebeneinander, jeder auf seiner Couch. Du warst völlig absorbiert vom Geschehen auf der Mattscheibe und für nichts Anderes erreichbar. Solche Sendungen waren früher gar nicht in deinem Gesichtsfeld. Jetzt unterschieden sie unsere Tage. Ich gewöhnte mich daran.

Zwischen uns wurde es still. Dein Bedürfnis, dich mitzuteilen schien weniger zu werden - und an dem, was ich erlebte, warst du nicht mehr interessiert. Ich war oft irritiert und enttäuscht, dass du nicht mehr nach mir fragtest und an meinem Leben keinen Anteil mehr nahmst.

Unsere Verbundenheit wurde oberflächlich und versachlichte, was dir gar nicht auffiel.

So, wie das unsichtbare Band unserer Verbundenheit im Alltag langsam farblos wurde, so verlor unser Zusammensein auch in seiner körperlichen Dimension seine Buntheit, seine Lebendigkeit und Freude. Auch das war ein schleichender Prozess. Zuerst spürte ich "es" in deinen Händen: du warst nicht mehr in ihnen. Du hast mehr und mehr deinen Körper verlassen, warst nicht mehr in ihm anwesend. Deshalb gingen die Resonanzen zwischen uns verloren, auch zwischen unseren Körpern. Ich sehnte mich unsäglich nach dir. Dir wurden Berührungen zuwider.

Selbst im Alltag verloren sich diese kleinen und doch so kostbaren Zeichen, mit denen wir uns erfreut und getröstet haben. Eines Tages hast du selbst unser über Jahre gepflegtes und geliebtes Einschlafritual nicht mehr ertragen können. Wir schliefen immer Rücken an Rücken ein, meine rechte Hand lag dabei an einer ganz bestimmten Stelle deines schönen Po´s. Ich kann mich nicht mehr an das Datum erinnern. Aber es gab diesen ersten Abend, an dem du dich von mir weg drehtest, ohne Worte. Dieser Schmerz blieb lange ein Abgrund. Die Leere, die du hinterlassen hast, ist geblieben.

Unser gemeinsames Leben mit all seinen Aufgaben hast du nach und nach preisgegeben. Es interessierte dich vieles nicht mehr: Haushalt, Urlaubsvorbereitungen, Gartenarbeit, sogar finanzielle Angelegenheiten überließest du mir. Selbst die Belange deiner Kinder verloren an Gewicht. Früher waren sie das Wichtigste in deinem Leben. Ja und auch die Sorge um unseren Hund, der immer gebrechlicher und älter wurde, fiel mir mehr und mehr zu.

Dein Handeln war oft rätselhaft und nicht nachvollziehbar: Als deine Mutter starb, hast du die Frau, die sie jahrelang liebevoll betreut hatte, nicht zur Beerdigung eingeladen. Du wolltest es nicht. Mehr gab es dazu nicht zu sagen von deiner Seite. Dir war nicht bewusst, dass du sie sehr kränktest. Stattdessen ludst du Leute ein, die deine Mutter gar nicht kannten.

Besuche wurden seltener. Du hattest wenig Interesse. Unsere legendären Feste, die wir mit viel Aufwand und Freude vorbereitet hatten, waren längst Vergangenheit. Kontakte schienen dich mehr und mehr anzustrengen. Selbst hast du dich kaum noch verabredet.

Ich war einsam in unserem Leben. Äußerlich lebten wir weiter, wie gewohnt. Ich übernahm mehr und mehr die Verantwortung, alles lief normal, allein die Substanz, das Innen, das Nährende verlor sich mehr und mehr. Es blieb eine Oberfläche, hinter der fast nichts mehr war. Das Lebendige schwand dahin. Wir wurden zu einer leeren Hülle, allein das Leben darin glich einer Erinnerung - eine Zukunft schien es immer weniger zu geben.

Wir waren eine üppig blühende Wiese im Spätsommer, die in der vollen Sonne lag - in unserem Schwarzwaldurlaub haben wir sie so noch gesehen, selbst in der Natur sind sie selten geworden. Unser Leben war bunt, reich an Farben und Formen, vielfältig und lustig.

Und dann, Geliebtes Wesen, wurden die Sonnenstunden kürzer, die Farbenpracht verschwand, die Umweltschützer sprechen von Artensterben und Klimawandel, wir erlebten es auf andere Weise.

Am meisten vermisste ich das Lächeln in deinem Gesicht - es verfinsterte sich - die Sonne ging unter - und den hellen Klang deiner Stimme: du sprachst nur noch wenig und auch "dein Ton" verlor seinen einzigartigen Zauber.

Als dein Sohn mich im Sommer 2014 fragte, ob du in der letzten Zeit untersucht worden seist, war "ES" für mich schon fast ins Bewusstsein durchgebrochen. Zum ersten Mal sprach ich "ES" aus, fragte, ob er befürchte, dass du an einer Demenz erkrankt seist. Auch er traute sich kaum, dieses Gespenst beim Namen zu nennen. Nun war es auf dem Tisch und verließ mich nicht mehr, wurde aber zunehmend zur Gewissheit, obwohl es noch einmal Jahre dauern sollte, bis ein Arzt etwas Objektives feststellen konnte.

 

Etwa ein Jahr nach diesem Gespräch, im September 2015, ist Funny gegangen.

Sie war alt und hinfällig, hatte oft Durchfälle und bekam Medikamente - aber sie fraß nach wie vor so gerne, spielte sogar dann und wann und drehte mit mir unsere Runden, die zwar kürzer wurden, aber genau so lange dauerten, wie unsere großen Runden früher. Später nahm ich einen Kinderwagen mit, damit sie zwischendurch ausruhen konnte. Du hast uns dann und wann begleitet, wobei du zunehmend ungeduldig und wenig einfühlsam mit ihr warst.

Dann kam unser letztes Wochenende. Du warst mit dem Auto bei deiner Tochter. Ich war wie oft, in dieser Zeit mit Funny allein. Es war ein strahlend schöner Herbsttag. Ich machte das Fahrrad mit dem Anhänger fertig. Wir wollten ins Grüne fahren, wo Funny ein wenig stöbern konnte!

Sie zeigte kein großes Interesse, als wir gingen. Trotzdem setzte ich sie in den Wagen. Wir fuhren los.

Warum ich nach kurzer Zeit schon anhielt weiß ich nicht. Als ich sie raus setzte, brach sie sofort zusammen, sie konnte kaum stehen, quälte sich unsäglich mit ihrem Häufchen. Wir fuhren sofort zurück und mit Bus und Kinderwagen zum Notdienst. Der Arzt gab Funny etwas gegen ihre Schmerzen, die sie offenbar hatte. Abwarten.

Ich sehe uns noch in der Abendsonne an der Bushaltestelle. Funny ging es nach der Spritze besser. Sie fraß Gras in der Sonne und ich saß neben ihr auf der Wiese, wir warteten auf den Bus. Es war so friedlich und einträchtig. Unser letzter gemeinsamer Abend.

Die Nacht war ruhig. Am Morgen wieder dasselbe Bild: Schmerzen. Funny konnte nicht mehr stehen.

Unser Tierarzt war nicht weit. Wir fuhren mit dem Kinderwagen. Das Röntgenbild ergab sofort Klarheit. Ein faustgroßer Tumor im Bauchraum. Es blieb nicht viel Zeit. Er linderte Funnys Schmerzen und wir fuhren wieder nach Hause.

Ich rief dich an, du warst gerade auf der Rückfahrt. Ja, wir wollten sie gehen lassen. Als du kamst hast du geweint. Das hatte ich schon lange nicht mehr erlebt. Gefühle waren dir unangenehm geworden und du zeigtet sie kaum noch. Ob du nicht mehr fühlen konntest ?  Aber Funnys "Weg-gehen" öffnete in dir noch ein mal ein Tor und wir erlebten einen Hauch von Nähe und Verbundenheit angesichts des Todes.

Über diesem letzten Tag von Funnys Leben lag ein tiefer Frieden auch zwischen uns dreien. Das bleibt unvergessen. Als der Arzt am Abend kam, bellte unser Hund sogar noch ein letztes Mal. Ich rief sie zu uns an ihren Platz, sie kam willig, schaute uns an, sie wusste alles.

Sie starb in meinen Händen auf ihrer Decke in ihrem Zuhause. Du saßest neben uns auf der Couch, wir weinten das letzte Mal gemeinsam.

 

Das Wesen dieser Hundeseele ist mir so zu Herzen gegangen, dass mir heute noch die Tränen kommen, wenn ich an ihre Treue und Ergebenheit denke, wenn ich in die Tiefe dessen hineinspüre, was sie für uns getan hat.

Sie ist gekommen, als es Zeit war, sie ist geblieben, solange es nötig war und sie ist wieder gegangen, als es Zeit war: selbstlos, fraglos, willig und voller Vertrauen. Kein Aufbegehren, kein Drama.

So zu sein - oder zu werden, war immer mein Wunsch und ich weiß, dass auch ich etwas Hündisches in mir trug.

Ich erlebte es als fast schmerzhafte Sehnsucht, einem anderen völlig ergeben zu sein und auch vor dem Opfer nicht zurückzuschrecken.

Ich habe mich dieses Wesens in mir oft geschämt, habe es nicht verstanden. Allein, du hast es nie missbraucht oder gar gering geachtet. Lange war es in deiner Obhut geborgen. Dafür bin ich dir unendlich dankbar.

Dann bist du weggegangen oder hat die Krankheit dich weggenommen, wie auch immer: Du warst nicht mehr da. Spätestens nach Funnys Tod, als die Krankheit vollends aus ihrem Dornröschenschlaf erwachte und ganz allmählich sogar in medizinisch relevanten Mess- und Testergebnissen auftauchte, erkannte ich, dass ich uns mit meiner Ergebenheit und Opferbereitschaft nicht mehr dienen konnte. Ich lernte einen Schritt, der über mich und dich und über uns hinaus ging. Ich lernte Hin-gabe."

 

Wenn es ein Herz zu jener Stille bringt, die Dingen eigen ist -

zu reinem Warten,

wird es (mitten im Schicksal) - unbedingt und schutzlos - offen

siehe, wie ein Garten, dem hingegeben, dass er gibt, gelingt.    

 

Rainer Maria Rilke